Das handwerkliche Bier
Deutschland ist ein Land mit einer enormen Vielfalt an Bieren. In über 1.500 Brauereien werden rund 6.000 verschiedene Biere gebraut. Das Brauhandwerk ist in Deutschland eine jahrhundertealte Kunst. Hier wird weit mehr gebraut und getrunken als in jedem anderen Land Europas (Quelle).
Auch Nordrhein-Westfalen hat eine lange Biertradition. Das Düsseldorfer Alt und das Kölner Kölsch gehören zu den Metropolen wie Landtag und Dom, in Westfalen trifft der Gaumen eher auf das weltbekannte Pils. Dortmunder Bier und Kölsch tragen sogar das EU-Siegel „geschützte geographische Angabe“.
Neben diesen Klassikern finden sich seit einigen Jahren auch in Deutschland vermehrt sogenannte Craftbiere. Dieser Trend zu sehr aromatischen Bieren und besonderen Spezialitäten kam aus den USA via England und Skandinavien zu uns. Der ursprüngliche Begriff ‚Craftbeer‘ steht dabei für solche aus ‚Homebrewing‘ und vielen kleinen Brauereien, die in den USA ab Mitte der 1970er Jahre für eine Bereicherung des an Brauereien und Sorten sehr überschaubaren Marktes sorgten. In der wörtlichen Übersetzung bedeutet ‚Craftbeer‘ nichts anderes als handwerkliches bzw. handgemachtes Bier. Und damit sind wir beim Kern des Themas.
Denn die Herstellung wird bei uns seit jeher mit klassischer handgemachter Braukunst gleichgesetzt, womit der Begriff ‚handwerkliches Bier‘ durchaus zutreffend ist. In Deutschland wird ausschließlich mit den natürlichen Zutaten Wasser, Malz, Hopfen und Hefe gebraut. So sieht es jedenfalls das ‚Reinheitsgebot‘ vor, an das sich alle Brauereien in Deutschland halten sollen. Am 23. April 1516 wurde diese Herstellungsvorschrift in Bayern erlassen und später für ganz Deutschland übernommen. Und da es im Prinzip bis heute unverändert ist, gilt das Reinheitsgebot als das älteste noch gültige Lebensmittel- bzw. Verbraucherschutzgesetz der Welt.
Nordrhein-Westfalen liegt gemessen an der Zahl der Braustätten (in 2019: 162) nach Bayern (647) und Baden-Württemberg (210) bundesweit an dritter Stelle. Allerdings ist die Zahl kleiner Brauereien in ganz Deutschland in der jüngeren Vergangenheit stark gestiegen. 2019 gab es bereits 862 sogenannte Mikrobrauereien mit einer Jahreserzeugung bis 1.000 hl, die damit mehr als die Hälfte (55,7 %) aller Brauereien (1.548) in Deutschland ausmachen. In diesem Kontext sorgt der Craftbier-Hype nicht nur für mehr Vielfalt, sondern bietet der Branche auch die Chance, die Wertigkeit des Genussmittels Bier hervorzuheben und Braukunst und -kultur wieder ins Verbraucherbewusstsein zu rücken. Zudem werden über den eigenen geschmacklichen Charakter vieler Craftbiere Kundinnen und Kunden angesprochen, die sich mit den klassischen Sorten nicht anfreunden können oder gerne etwas Neues ausprobieren möchten.
Craftbiere sind hierzulande zumeist malzbetonte oder besonders hopfenaromatische Kreationen, die mit fachkundiger Lust am Experiment erzeugt werden und oft einen regionalen Bezug haben. Auch am Bier lässt sich übrigens gut der Trend zur Regionalität festmachen. Brauereien profitieren dabei insbesondere vom Verbrauchervertrauen und können mit Nachhaltigkeitsaspekten wie kurzen Lieferwegen sowie ihrer Verbundenheit mit der Region punkten, die sie u. a. durch Sponsorings für Vereine und Veranstaltungen ausdrücken.
Auch in NRW kennt die Kreativität der Braumeisterinnen und -meister keine Grenzen. Das Besondere dabei ist, dass auch Craftbiere meist nach dem Reinheitsgebot mit den bekannten natürlichen Ingredienzen gebraut werden. Anstatt Pils oder Export, Alt oder Kölsch heißen die Kreationen dann ‚Landbier‘, ‚Kellerbier‘, ‚Karnevalsbier‘, ‚Ernte-Bier‘, ‚Rotbier‘, ‚Nikolaus Spezial‘, ‚Typ 5‘, ‚Bernstein‘, ‚Schwarze Acht‘, ‚Wildschütz‘, ‚Pale Ale‘, ‚ Bourbon-Bock‘ oder‚Chardonnay Hopfen‘. Manche Biere sind limitiert und nur saisonal oder als Jahrgangsspezialitäten erhältlich. Die Beschreibungen lesen sich ähnlich wie bei hochpreisigen Weinen oder Spirituosen: „In der Nase sind intensiv würzige Malz- und Hopfenaromen, „… für einen kraftvollen Körper und ein erwärmendes Trinkgefühl …“, „Weinfruchtige Aromen des Chardonnay Hopfens werden von Mango, Karamell, Toffee, etwas Honig und Hefe begleitet“.
Angesichts der langen Tradition dieses Handwerks in NRW wundert es nicht, dass die heimische Braukunst seit 2015 auch mit dem Ehrenpreis der Landesregierung ‚Meister.Werk.NRW‘ gewürdigt wird. In diesem Jahr erhielten gleich acht Brauereien den Ehrenpreis als besondere Anerkennung der handwerklichen Produktion, des sozialen Engagements und einer verantwortlichen und nachhaltigen Betriebsführung. Die Preisträger sind
- Privat-Brauerei Strate, Detmold
- Brauhaus Urfels, Duisburg-Walsum
- Gleisbrauer, Frechen
- Privatbrauerei Bolten, Korschenbroich
- Privat-Brauerei Hohenfelde, Langenberg
- Privatbrauerei Ernst Barre, Lübbecke
- Gräflich zu Stolberg‘sche Brauerei Westheim, Marsberg-Westheim
- Pott‘s Brauerei, Oelde
Alle Preisträgerinnen und Preisträger sind sehr in ihrer Region verankert und meist brauen sie neben klassischen Biersorten besondere Spezialitäten. Und sie sind sich der kulturellen Bedeutung des Bieres sehr bewusst. Die Privat-Brauerei Strate hat in Detmold die „Stratosphäre“ geschaffen, ein Kompetenz- und Wissenzentrum, in dem das ganze Universum der Biere über Verkostungen, Braukurse, Craftbier- und Genussmessen erlebbar ist. Zudem werden in ‚Colaborationbrews‘ (Kollaborationssude) mit befreundeten Brauern neue limitierte Biersude von Hand gebraut – echte Craftbiere eben.
In Oelde führte die Pott‘s Brauerei verschiedene Betriebsteile in einem Neubau zusammen und entwickelte am neuen Standort eine gläserne Erlebnisbrauerei mit unbeschränktem Einblick in alle Abteilungen. Zugleich bot sich Inhaber und Geschäftsführer Jörg Pott die Gelegenheit, sich damit auch neu aufzustellen. Er nutzte die Chance, mit einem innovativen Brauatelier auch eine Kreativabteilung für die Förderung der Braukunst zu entwickeln. Für Pott sind Craftbiere ein sehr naheliegendes Thema und angesichts ihrer Orientierung an vielfältigen nationalen und internationalen Bierstilen so etwas wie die „Bierspezialitäten 2.0“. Im Brauatelier entstehen dabei nicht nur eigene Craftbier-Kreationen. Um noch mehr Vielfalt zu fördern und die Bierbranche zu beleben, stellt Pott‘s das 15-Hektoliter-Sudwerk auch kleinen Brauerei-Startups zur Verfügung. So entstanden im Brauatelier bereits 100 verschiedene Biere und aus Lohnbrau und Lohnabfüllung resultiert ein breit gestreutes Angebot. „Bier sollte als interessantes und junges Produkt wahrgenommen werden können. Mit unserem Angebot für kleine Brauer sorgen wir für eine Belebung der Branche“, erklärt Jörg Pott. Die Frage, warum er für die Konkurrenz braut, liegt da natürlich auf der Hand. Potts Grundverständnis ist hier allerdings ein anderes: „Die ticken doch wie wir und wir freuen uns auf jeden Austausch. Denn wir wollen die Menschen vom Bier in all seiner Vielfalt begeistern, Bewusstsein schaffen und eine Wertschätzung in Richtung Genuss und Erlebnis erreichen.“
Eine ähnliche Motivation dürfte auch bei der ‚Konkurrenz‘ Grund für die genussvolle Initiierung sein. Die Gleisbrauer z. B. brauen ihre ‚Hopfenspezialitäten‘ nicht nur unmittelbar vor Ort im Alten Bahnhof Frechen. Den Gästen wird das brau-frische Bier direkt aus den Ausschanktanks ins Glas gezapft. Die Privatbrauerei Bolten lädt Gäste im Picknick-Biergarten dazu ein, die hauseigenen Bierspezialitäten zusammen mit ihren mitgebrachten Speisen zu genießen. Das Brauhaus Urfels knüpft an den Johanniterorden an, der in Walsum eine Kommende unterhielt und dort Ordensmitglieder und Reisende bewirtete – Bierbrauen und Gastlichkeit als niederrheinische Tradition.
Gerade in diesem Bereich hoffen die Bierbrauer nun auf eine schnelle Normalisierung, denn die pandemiebedingten Schließungen in der Gastronomie und die Absagen von Veranstaltungen haben den Bierabsatz einbrechen lassen.
In unserem Video berichtet Ernährung-NRW-Mitglied Hans Berlin von seinen Erfahrungen mit dem Craftbier-Startup költ GmbH und von der Situation kleiner Brauereien in NRW
(© Jörg Meyer | jumpr.com)
Fotos: Jörg Pott, Brauereitechnik, hochwertige Rohstoffe, offene Gärung, Brauereimuseum, Bier-Geselligkeit (© Pott’s Brauerei)